Den radikalen Methoden fehlt das radikale Programm

Kathrin Gerlof: Herr Peukert, Sie sind Wirtschafts- und Staatswissenschaftler, haben an der Universität Siegen gelehrt und sich mit Wirtschaftsgeschichte und post-autistischer Ökonomie befasst. Jetzt unterbreiten Sie einen wirklich sehr radikalen Vorschlag an die »Letzte Generation«. Es gebe, sagen Sie, eine Lücke zwischen der Radikalität der Methoden und der »Sanftheit« der von der LG an die Politik gestellten Forderungen. Das finden Sie nicht gut?

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Die Legitimität der auf Privateigentum gegründeten Verfügungsgewalt schwindet

Axel Honneth (Foto: Institució Alfons el Magnànim auf wikimedia commons)

Theorien der Gesellschaft, die diese unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit analysieren und potentiellen Kräften der Veränderung nachspüren, sind rar, aber es gibt sie. Der frühere Direktor des Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, weiß sich einer solchen Theorie verpflichtet. Er hat eine ‚normative Theorie der Arbeit‘ vorgelegt, und man geht wohl nicht fehl, dieses Buch in die Reihe der jüngeren Arbeiten dieses Autors zu stellen, die sich der Idee der Anerkennung und der eines zeitgemäßen Sozialismus widmen. Seine Bücher haben den Vorteil, dem Leser die als Analyse getarnte Agitationsliteratur zu ersparen, mit der man es heutzutage zum Suhrkamp-Autor bringen kann. (Honneths Hausverlag setzt vermutlich auf Quersubventionierung, und Bücher über den ‚kannibalischen Kapitalismus‘ finanzieren solche seriöse).

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“Wehrt euch, ihr seid im Recht”

Ernest Kaltenegger (Foto: Pit Wuhrer)

Bei der Gemeinderatswahl 2021 in Graz gewann die KPÖ 29 Prozent der Stimmen und stellt seither als stärkste Fraktion auch die Bürgermeisterin von Österreichs zweitgrößter Stadt. Bei der Wahl für den Salzburger Landtag im April 2023 erreicht die KPÖ in der Festspielstadt sagenhafte 22 Prozent. Seemoz, das Online-Magazin am Bodensee, publizierte unter dem Titel „Druck von außen kann etwas bewirken“ ein Gespräch mit Ernest Kaltenegger (geb. 1949), einem Urgestein der steirischen KPÖ, über die Hintergründe des Erfolgs. Das Interview führte Ralph-Raymond Braun. Bruchstücke dankt für die Übernahmemöglichkeit.

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Ein neues Nachdenken, auch neue Gedanken?

Es bahnt sich eine erstaunliche Wiederentdeckung an: Jahrzehntelang machten sich Soziologen und Philosophen Zukunftsgedanken über das Verschwinden der (bezahlten) Arbeit und der Berufe. Und jetzt, nach drei Jahren der Pandemie, dem Mangel an Fachkräften in der Erziehung, der Bildung oder der Pflege und der alles beherrschenden Frage, wie die Industrieländer in Europa einen klimarettenden Wandel auf demokratische und soziale Weise schaffen, erhalten Anspruch und Wirklichkeit der Arbeit neue Aufmerksamkeit: Vor allem in Frankreich und Deutschland.

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Sag mir, wo die Alten sind

Klar kennen Sie diese Anfeindungen: Die Alten fressen uns auf. Die Alten leben auf unsere Kosten. Für uns Junge bleibt nichts übrig. Die Alten gegen die Jungen. Stets geht es um das heutige, ach so gute Leben der Alten und erbärmliche Zukunfts-Aussichten der Jüngeren und Jungen. Seit Jahren geht das so. Die Friedrich-Ebert-Stiftung zeichnete gar 2018 Wolfgang Gründingers Buch: “Alte Säcke Politik. Wie wir unsere Zukunft verspielen“ als Buch des Jahres aus. Keine Lösung für solche Anfeindungen und Kontroversen in Sicht.

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Völkisch-nationalistisches Denken hinter Kremlmauern

Der Historiker Timothy Garton Ash berichtet in seinem neuesten Buch „Homelands“ von einer Begegnung im Jahr 1994 mit einem Mann, „short, thick-set, with an unpleasant, vaguely rat-like face“, der sich über die Unabhängigkeit früherer europäischer Sowjetrepubliken erregte, die doch alle nach wie vor zu Russland gehörten. Ort der Begegnung: Sankt Petersburg. Der Gesprächspartner: ein gewisser Wladimir Putin, seines Zeichens Assistent des Bürgermeisters der Stadt. Michel Eltchaninoff, Chefredakteur des in Frankreich erscheinenden „Philosophie Magazins“, hatte sich nach dem Einmarsch Russlands auf der Krim 2014 darangemacht, die ideologischen Grundlagen Putins zu untersuchen. 2015, in deutscher Ausgabe 2016, hatte er die Ergebnisse unter dem Titel „In Putins Kopf“ veröffentlicht. Vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 ist dieser Band nun aktualisiert neu aufgelegt worden.

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Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht

Konflikte, zumal Großkonflikte, Kriege sowieso, haben eine innere Dynamik der Eskalation. Gegenstimmen werden als Handlangerdienste für den Gegner gebrandmarkt, unabhängiges Denken gerät zum Verrat an der eigenen Sache. Bruchstücke publizierte wiederholt divergierende Sichtweisen auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Mit zwei direkt aufeinander folgenden Beiträgen [“Völkisch -nationalistisches Denken hinter Kremlmauern” schließt sich an] setzen wir diese Perspektivenpluralität fort, beginnend mit dem Interview, das Thomas Gesterkamp für der Freitag mit der Historikerin Sandra Kostner führte. Sie wendet sich gegen den Rückfall in das alte Muster der Blockkonfrontation, Gut gegen Böse. Wir danken der Freitag für die Erlaubnis, das Interview zu übernehmen.

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Die Verdrängungsgesellschaft in moralischer Panik

Screenshot: Twitter

Inzwischen gefallen sich auch Sozialdemokraten darin, die »Letzte Generation« als »kriminelle Vereinigung« zu bezeichnen. Über die gefährlichen Folgen einer gewissenlosen Debatte, die vom schlechten Gewissen getrieben ist und den »starken Staat« als wahren Schwächling zeigt.
»Die moral panic um die Aktionen der ›Letzten Generation‹ hat zumindest vorübergehend selbstverstärkende Tendenzen«, hat Nils C. Kumkar vor einem halben Jahr hellsichtig analysiert, »weil der Nachrichtenwert der Aktionen, der sich zu Beginn aus dem Neuigkeitswert der Aktionsformen speiste, zunehmend aus der politischen Verurteilung der Proteste bezogen wird, was dann wiederum auf eine vermeintliche Radikalisierung(sgefahr) der Proteste zurückgerechnet wird.«

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Ohne Bilanzkosmetik wären viele Banken bankrott

Foto: ty-yang auf Pixabay

Innerhalb von zwei Monaten sind in den USA vier Banken zusammengebrochen. Unter dem Titel „Spekulanten haben die CS [Credit Suisse] erledigt – Jetzt kommen US-Banken dran publizierte die Schweizer Internet-Zeitung Infosperber Auszüge aus einem Gespräch zwischen Michael Hudson, Wirtschaftsprofessor an der University of Missouri–Kansas City, und dem Journalisten Ben Norton, Gründer und Herausgeber des Geopolitical Economy ReportBeide argumentieren, ohne Bilanzkosmetik wären viele Banken bankrott. Die Banken würden sich auf eine unwissende Öffentlichkeit und – sofern sie groß genug seien, um als systemrelevant zu gelten – auf die Politik verlassen. Bruchstücke übernimmt leicht gekürzt.

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Eine traurige Markeninszenierung

6. Mai 2023 (Foto: Kathie Chan auf wikimedia commons)

War was? Armer King Charles: Sichtbar unangenehm drückt die Last der zwei Kilogramm schweren Krone (oder präziser: four pounds) auf sein Haupt. Die Krönungsfeierlichkeiten erzeugen keine Aufbruchsstimmung, sondern sie umweht eine melancholische Atmosphäre. Der ganze Pomp der marschierenden Garden und goldenen Kutschen erstrahlt und beeindruckt, aber erscheint zugleich doch aus der Zeit gefallen. Die republikanischen Proteste sind so laut wie nie („not my king“).
Welches Schauspiel zeigte sich hier der gebannten Welt von hunderten Millionen TV-Zuschauern? Es ist – aus meiner Sicht als Gesellschaftsforscher mit Marketinghintergrund – eine traurige Markeninszenierung, die in eine Vielzahl kommunikativer Dilemmata verstrickt ist.

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Mene, mene, tekel u-parsin

Bild von Jennifer auf Pixabay

Im Programmheft für original deutsche Stücke steht gegenwärtig an erster Stelle die Trauzeugen-Aufführung. In Köln läuft die Trauzeugengeschichte mit dem Untertitel: „Echte Fründe ston zesamme, ston zesamme su wie eine Jott un Pott.“ Den ersten Teil der Zeilen (einem Lied der Mundart-Band „de Höhner“ entnommen), muss man nicht übersetzen; es ist ratsam die zweite einzudeutschen: Sie stehen zusammen, wie sie zu einem Gott beten und gemeinsam aus einem Napf, einer Schüssel (“Pott“) essen. Die beigefügte Theaternotiz lautet: Komödie mit ernstem Anstrich und ungewissem Ausgang in mehreren Akten. Das Publikum ist begeistert. Ein wenig Hintergrund zur Trauzeugengeschichte und dem „ston zesamme“ ist freilich in jedem Fall hilfreich.

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Ein Buch, das seine Chancen verspielt

Religionskritik erfordert keinen Bürgermut vor Bischofssitz und Fürstenthron mehr. Der von der Präambel des Grundgesetzes bemühte Gott ist nur noch ein folkloristisches Überbleibsel, Präambel-Gott genannt. Der Atheismus, den man sich noch bis ins 19. Jahrhundert mit mühsamen Kämpfen erkaufen musste, ist längst gratis zu haben. Die Welt ist eine Republik…und erträgt weder einen absoluten noch einen konstitutionellen Gott…Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder Erster Konsul, welcher nicht viel Ansehen genoss, ich musste ihn absetzen…Die Unsterblichkeit geht in den Kauf. So schrieb einmal Gottfried Keller. Das Buch “Ist Gott demokratisch?” will dem Zeitgeist gegenhalten.

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Der Dissident als Patriot

„Sozialist, Kanzler, Patriot“, so der Untertitel zu der Biographie über Willy Brandt, die der langjährige Zeit-Journalist Gunter Hofmann Anfang 2023 veröffentlicht hat. Drei Prädikate, die in der alten Bonner Republik nicht unbedingt gängige Begriffsreihung waren. Sie deuten die Spannbreite an, mit denen Hofmann dem Leben dieses Ausnahmepolitikers nachspürt.
Den einen Willy Brandt für alle gibt es für Hofmann nicht. Nahezu warnend erinnert er im Vorwort daran, der Künstler Andy Warhold habe den SPD-Vorsitzenden 1976 mit 26 Kunstsiebdrucken zur Pop-Ikone erhoben. Immer das gleiche Motiv, Brandt mit Zigarette im Mund, und doch jeder Druck – und damit auch Brandt – immer in anderem Licht. Nicht den Willy Brandt für alle will der Autor zeichnen, sondern „meinen Brandt“.

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Der deutsche Buchhandel begrüßte die »nationale Erhebung«

Bundesarchiv: Berlin, Opernplatz, Bücherverbrennung
(Foto: Georg Pahl auf wikimedia commons)

10. Mai 1933: In deutschen Universitätsstädten karren Studenten und Nazi-Anhänger Tausende Bücher aus öffentlichen und privaten Bibliotheken zusammen und verbrennen sie auf öffentlichen Plätzen. Es ist der schauderhafte Höhepunkt der Kampagne »Wider den undeutschen Geist«.
Die Szenerie ist sorgfältig geplant, nichts war dem Zufall überlassen worden: Fackeln waren verteilt worden, auf Kommando zieht die auf mehrere tausend Menschen angewachsene Menge los, vorneweg Professoren in Talaren, dahinter NS-Studierende, SA, SS, Burschenschaften und Hitlerjugend. Über das Oranienburger Tor, die Hannoversche, die Luisen- und die heutige Reinhardtstraße, geht es zum Reichstag, dann durchs Brandenburger Tor zum Opernplatz, nun eskortiert von berittener Polizei. Auf dem Platz ist ein Holzstoß aufgeschichtet worden. Feuerwehr steht mit Benzinkanistern bereit. Nun karrt ein Lastwagen mehr als 20.000 Bücher herbei.

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Beschämend die Debatte um Entschädigung, erbärmlich die Höhe der Zahlungen

Bundesarchiv Bild 183-77013-0002, Pressburg, Frick und Globke
Der Ausschuss für Deutsche Einheit dokumentierte am 14.10.1960 auf einer Pressekonferenz in Berlin, dass die Praktiker und Theoretiker des brutalen Kriegs”rechts” der Nazis, die Herausgeber und Artikelverfasser der faschistischen “Zeitschrift für Wehrrecht” heute wieder in gleicher oder ähnlicher Funktion für Adenauer und Strauss tätig sind. Frick und Globke waren 1941 in Pressburg [Bratislava], um die faschistischen Judengesetze in der Slowakei einzuführen.

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Mit diesen Sätzen seiner Rede vom 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag ordnet der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Kapitulation von Wehrmacht und Staat der Nazis, 40 Jahre danach, endlich richtig ein. Diese Worte wirkten auch befreiend für mich und viele meiner Generation. Das Staatsoberhaupt sprach aus, was für viele von uns selbstverständlich war, aber doch nicht öffentlich von staatlicher Stelle gesagt wurde. Denn trotz der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, der Entnazifizierungsprogramme durch die Alliierten, oft halbherzig und inkonsequent, war 1945 keineswegs ein vollständiger Neubeginn.

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